Der Punkt schluckt den Satz
Ein Portrait des südafrikanischen Künstlers William Kentridge und seines Vaters, des Anwalts Sir Sydney Kentridge
ORF / BRSir Sydney Kentridge sitzt in der Küche seiner Gartenwohnung im noblen und grünen Londoner Stadtteil Maida Vale. Er trinkt Filterkaffee. Bis zu seinem 90. Geburtstag arbeitete er als Anwalt am English Bar. Die Queen adelte ihn für sein Lebenswerk. Seine größten Verdienste als Jurist erwarb er jedoch nicht in England, sondern in Südafrika. 1922 in Johannesburg in eine polnisch-litauisch-jüdische Familie geboren, wurde er in den 1950er Jahren zu einem der wichtigsten Verteidiger der Anti-Apartheid Bewegung. Die Staatsanwälte des Regimes fürchteten seine mit brillianter Ironie und kühler Beharrlichkeit geführten Kreuzverhöre. Im Lauf seiner Karriere zählte er drei künftige Nobelpreisträger zu seinen Mandanten: Nelson Mandela, Desmond Tutu und Albert Luthuli.
Sein Sohn William Kentridge ist Anfang sechzig und einer der gefragtesten Künstler der Welt. Ohne jemals einfache Antworten zu finden, versucht er, die moralisch komplexe Position des Weißen in der südafrikanischen Gesellschaft zu ergründen. Seine aus Kohlezeichnungen entstehenden Animationsfilme setzt er als Bestandteile von Kunstinstallationen und multimedialen Performances ein. Immer wieder hat er darin Ereignisse verarbeitet, die mit der beruflichen Laufbahn seines Vaters zu tun haben. Etwa jenen Moment, als er im Alter von sechs Jahren in dessen Arbeitszimmer heimlich eine gelbe Schachtel öffnete, von der er meinte, dass sie Schokolade enthalten müsste, doch stattdessen die forensischen Fotos des Sharpeville Massakers vom März 1960 erblickte.
Als weißer, südafrikanischer Künstler, sagt William Kentridge, war und ist es ein narrow gap, ein enger Zwischenraum, in dem er arbeite, immer im Bewußtsein der Eigentümlichkeit seiner Position: Teil eines kompromittierten, unnatürlichen Gesellschaftssystems zu sein und dies als Ausgangspunkt für seine Kunst zu akzeptieren.
Zum Zeitpunkt des Interviews, im Sommer 2016, gastierte William Kentridge in Berlin mit der Ausstellung und Performance-Reihe „NO IT IS!“. Der Martin-Gropius-Bau zeigte eine Personale, deren Herzstück eine riesige, sich über mehrere Leinwände bewegende Schatten-Prozession war, die die erzwungenen Migrationsbewegungen der nicht-weißen, südafrikanischen Bevölkerung während Kolonialzeit und Apartheid spiegelte.
Im Haus der Berliner Festspiele wurden sämtliche seiner performativen Arbeiten aufgeführt – so die multimediale Kammeroper „Refuse the Hour“, in welcher Kentridge als intellektuell provozierender Erzähler das Konzept der Zeit umkreist, während um ihn herum riesige Metronome ticken, südafrikanische Tänze voll Kühnheit und Prägnanz aufgeführt werden und eine Sängerin Berlioz’ Arie „Le Spectre de la Rose“ rückwärts singt - als würden die Klänge eingesogen von einem akustischen schwarzen Loch. Umkehrungen spielen in Kentridges Kunst eine große Rolle – sei es das rückwärts gehen, das rückwärts abspielen von Filmaufnahmen, oder der Versuch, Zurücknahmen, Auslöschungen – durch Wortreihen wie „UNDO UNSAY UNSAVE UNREMEMBER UNHAPPEN“ - in die Sprache einzuschreiben.
Für „Refuse the Hour“ führte er Gespräche mit dem amerikanischen Wissenschaftshistoriker Peter Galison. Gemeinsam gingen sie der Frage nach, ob ein schwarzes Loch das Ende der Zeit sei. Die Fähigkeit von Antimaterie, Körper zu absorbieren, die eine sehr viel größere Ausdehnung haben als sie selbst, veranschaulicht Kentridge mit folgendem Bild: „Ein schwarzes Loch von der Größe eines Punktes schluckt einen Satz.“ Der Punkt schluckt den Satz. The full-stop swallows the sentence. Ein typischer Kentridge-Satz. Vielleicht könnte man ihn auch anwenden, um die Apartheid zu beschreiben – ein politisches System, in dem eine winzige weiße Minderheit die schwarze Mehrheitsbevölkerung schluckte, einsog und in den Eingeweiden des Landes – den Goldminen – verschwinden ließ. Politische Antimaterie. So läßt Kentridge in einem seiner Animationsfilme auch eine Schattenprozession in einem schwarzen Loch verschwinden. In dessen Zentrum, so offenbart es der Film, sitzt er selbst und löffelt eine Suppe aus.