50 Jahre Unabhängigkeit im Senegal
von der Modelldemokratie zum westafrikanischen Mittelmaß
Österreichischer RundfunkAls das „Afrikanische Jahr“ ging das Jahr 1960 in die Weltgeschichte ein. Siebzehn ehemaligen europäischen Kolonien in Schwarzafrika – darunter dem Senegal – brachte es das Ende der Kolonialherrschaft. Sie alle feierten 2010 das fünfzigjährige Jubiläum ihrer Unabhängigkeit.
Doch was bedeuten fünf Jahrzehnte Selbstbestimmtheit nach mehr als drei Jahrhunderten imperialer Einflussnahme? Und welchen Einfluss hat die jahrhundertelange Erziehung zu Sprache und Kultur der Kolonisatoren noch heute? Der Topos des „Zerrissenseins“, des Lebens in einem kulturellen Zwischenraum wurde von vielen Intellektuellen der afrikanischen Kolonien und der Diaspora beschrieben. Andererseits waren es gerade die am stärksten assimilierten Schwarzafrikaner, die die Legitimität des Kolonialismus wirkungsvoll in Frage stellen konnten. Die Anpassung an die Dominanzkultur enthält die Möglichkeit zu ihrer Überwindung. Und fast alle maßgeblichen Persönlichkeiten der Unabhängigkeitsbewegungen wurden in den Bildungseinrichtungen der „Metropolen“ geformt.
So auch Léopold Sédar Senghor, der als frankophoner Dichter und erster Präsident der unabhängigen Republik Senegal in die Geschichte der französisch-afrikanischen Beziehungen einging. Der "Dichterpräsident" Senghor war keineswegs unumstritten. Vielen Zeitgenossen schien er der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich zu nahe zu stehen. Dennoch gelang ihm der Dialog mit den verschiedensten sozialen Gruppen - von den Bauern des senegalesischen Hinterlandes über die wirtschaftlich einflussreiche Mouriden-Bruderschaft bis hin zu den protestierenden Studenten des Jahres 1968. Unter seiner Präsidentschaft entwickelte sich das Land zum kultur- und bildungspolitischen Vorzeigestaat.
2010 hat sich die einstige Modelldemokratie im westafrikanischen Mittelmaß eingerichtet. Bei einem Durchschnittsalter von 18 Jahren sind 48 Prozent der Senegalesen arbeitslos. Der Analphabetismus nimmt zu - und die Absetzung des Französischen als Landessprache ist ein viel und kontroversiell diskutiertes Zukunftsszenario.
Nach fünfzig Jahren Unabhängigkeit bleiben viele Fragen ungeklärt: Wo liegen die Möglichkeiten wirtschaftlicher Entwicklung? Wie funktioniert nationale Identitätsbildung nach drei Jahrhunderten imperialer Einflussnahme? Und wie wird die Logik des Kolonialismus fortgeführt?
Literaturliste
Léopold Sédar Senghor, "Botschaft und Anruf. Sämtliche Gedichte". Übertragen von Janheinz Jahn. München, Hanser 1963
Léopold Sédar Senghor, "Liberté I - IV". Paris, Editions du Seuil, 1964 - 1983
Janós Riesz, "Léopold Sédar Senghor und der afrikanische Aufbruch im 20. Jahrhundert". Wuppertal, Verlag Hammer, 2006
Janet Vaillant, "Black, French and African: A Life of Léopold Sédar Senghor". Harvard University Press, 1990.
James F. Searing, "West African slavery and Atlantic commerce". Cambridge University Press, 1993
Le Monde Diplomatique, "Atlas der Globalisierung 2009". Berlin, TAZ- Verlags- und Vertriebsgesellschaft, 2009
OECD Development Center, "Turning African Agriculture into a Business". 2009